"Yoga hat mein Leben verändert"- Im Porträt über Yogalehrerin Gesa Wilkens -


Wenn sich Gesa Wilkens auf die rote Matte sinken lässt, lässt sie ihre Rollen los: Sie ist dann nicht mehr Mutter, Partnerin, Lehrerin, Schwester, Tochter oder Geschäftsfrau. Sie schließt die Augen und atmet, die Hände vor dem Herzen gefaltet, kommt an bei sich selbst.

„Ich bin dann in einer anderen Welt, ganz weit weg und doch bei mir“, sagt Gesa. Obwohl sie nicht an Gott glaubt und Religion für dogmatisch hält, gibt ihr das Yoga jeden Tag Energie und Kraft: Der Flow, der so vieles in ihrem Leben hat entstehen lassen, trieb sie von Kanada nach Spanien, nach Indien und wieder nach Deutschland. Und immer zurück auf die Matte. Schon als junges Mädchen befasste sich die heute 36-Jährige mit Fragen nach dem Sinn des Lebens, mit Philosophie, Dichtung. Sie ließ sich auf andere Kulturen und Gedankenwelten ein, reiste allein durch Frankreich, Griechenland, durch Asien. „Ich wollte Menschen kennenlernen, ihre Geschichten hören, sehen, wie sie leben“, erklärt sie.

Vancouver Island, Kanada: Ein Ort, der ihren zukünftigen Lebensweg mitbestimmen sollte. In einem Dorf, der nächtliche Bärenbesuch ein normales Ereignis, lebte Gesa als AuPair-Mädchen bei einer Familie mit zwei Kindern. Die Eltern Zahnärzte, normale Menschen, nicht religiös, nicht spirituell veranlagt. Ein Bild, das sich nicht mit dem deckte, das für Gesa diejenigen beschrieb, die Yoga praktizierten. „Damals war Yoga für mich exotisch…das machten Leute, die ein bisschen abgefahren waren“, erinnert sie sich.

Das kanadische Zahnarztpaar empfahl ihr, die Yogastunden im Dorf zu besuchen. Anstatt sich inmitten von Sonderlingen wiederzufinden, hinterließ Yoga bei Gesa einen bleibenden Eindruck. Wo sich schwimmen, voltigieren, reiten, segeln, surfen, Volleyball und Fußball nicht in ihrem Alltag halten konnten, wurde Yoga zum ersten Sport, den sie über die Jahre hinweg beibehielt. „Weil ich die Lebensphilosophie daran so toll finde“, begründet Gesa. „Die Kraft, die man den Menschen mitgeben kann. Dass man so viel teilt, wie man das Leben mehr genießen kann.“

Eigentlich ist Gesa Lehrerin für Kunst und Spanisch. Sie liebt diesen Beruf, gab schon als Schülerin Nachhilfe in Sprachen. Es bereitet ihr Freude, mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten, sie auf ihrem Lebensweg zu unterstützen. Auch durch Yoga? „Ich habe immer gesagt, ich will Yoga nur für mich machen, weil es mir so guttut. Es sollte einfach meins bleiben. Die Ausbildung konnte ich mir nur für mich selbst vorstellen, um mich mehr mit mir zu beschäftigen.“ In ihrer Studienstadt Bremen probierte Gesa sich weiter aus: in Kundalini Yoga, eine Form des Tantra; in Power Yoga. Ashtanga Yoga lernte sie in Madrid kennen, ihrem Wohnort während ihres zweiten Studienjahres. Jede Erfahrung brachte sie näher zu ihrer eigenen Yoga-Praxis.

Nach dem Studium sollte es soweit sein: Die Ausbildung zur Yoga-Lehrerin. Aber ein hartes Familienschicksal ließ Gesas Überlegungen zusammenbrechen.

Durch Yoga habe ich gelernt, Lebenskrisen zu überwinden.

Gesa war 25, als ihr jüngerer Bruder einen Schlaganfall erlitt. Er war halbseitig gelähmt, konnte nicht sprechen. Anfangs war nicht klar, ob er überleben würde – ein begabter und studierter Klavierspieler, Gitarrist, Schlagzeuger.

„Als ich die Nachricht bekam, fuhr ich sofort mit meiner Familie zu ihm. Es war extrem. Wir saßen da und ich habe nur geheult. In Gedanken war ich hin- und hergerissen: Scheiße, was ist, wenn ich ankomme und er ist tot? habe ich immer wieder gedacht. Und gleichzeitig: Du schaffst das, ich schicke dir Energie…“

Gesa war in den unzähligen Reha-Kliniken immer wieder an der Seite ihres Bruders. Nebenbei schloss sie ihr Masterstudium mit Bestnoten ab. „Ich habe beim Lernen mein Bestes gegeben, aber auch gemerkt, dass vieles so viel wichtiger ist. Ich wusste, dass der Stress Schwachsinn ist.“

Ihr Bruder wollte schnell wieder laufen, die Arme bewegen, sprechen. Nach einem Jahr wurde er manisch-depressiv. Jedes Wochenende besuchte Gesa ihn in Kiel, um ihre Eltern zu unterstützen. „Währenddessen habe ich gelernt, mein Referendariat als eine Chance zu sehen, die sich für mich aufgetan hat. Meine Lebensperspektive hat sich stark verändert – wenn man sie verändert sieht man, was entscheidend ist.“

Mittlerweile läuft ihr Bruder wieder, ist alleinerziehender Vater. Jede Woche besucht er Logopäden, Ergotherapeuten, Physiotherapeuten. Lebenslagen wie diese hätten andere Menschen verzweifeln lassen. Gesa hingegen hat es geschafft, zu ihrer eigenen Kraft zu kommen, „Ja“ zum Leben zu sagen. „Ich möchte die Menschen, denen ich begegne, dazu befähigen, im Jetzt zufrieden zu sein, anstatt sich pausenlos mit der Vergangenheit zu beschäftigen oder sich über die Zukunft zu sorgen“, sagt sie.

Die Philosophie des Yoga beinhaltet Elemente, die entwickelt wurden, um mit schweren Situationen umgehen zu können. Aus diesem Wissen schöpft Gesa ihre Lebensfreude. Der Schlaganfall ihres Bruders machte ihr klar: Sie muss sich nicht zu ernst nehmen, dem Druck der Welt nicht nachgeben. Müssen, das ist für Gesa eine von der Gesellschaft auferlegte Illusion. „Viele Leute vergessen heute, dass man überhaupt nichts muss. Wir müssen uns nur selbst gerecht werden.“

Es mag gerade deshalb inspirierend sein, dass Gesa ihren Traum „Yogalehrerin “ nie verloren hat. Gemeinsam mit ihrem Lebenspartner Christian, der eigentlich Elektroingenieur ist, unterrichtete sie kurz nach ihrer Ausbildung private Yoga-Gruppen in ihrem Wohnzimmer: Möbel zur Seite, Matten auf den Teppich. Im Sommer 2014 in Kiel dann der Durchbruch, als Gesa und Christian ihr eigenes Studio eröffneten. Gesa war damals schon schwanger. Zwei Wochen vor der Geburt zog Gesa sich aus dem Schwangeren-Yoga-Kurs zurück, den sie unterrichtete, 14 Tage später war sie zurück auf der Matte.

„Als unser Sohn ein Jahr alt war, habe ich auch wieder in der Schule unterrichtet. Wir konnten noch nicht vom Studio leben.“ Morgens Schüler, nachmittags Mutter, abends Yoga, nachts Organisation, Planung, Finanzen. Die Vollzeitjobs wurden zu viel. „Ich wollte Energie haben, um die Zeit mit meinem Sohn und Christian zu genießen. Es ist ein Privileg, mit einem kleinen Kind selbstständig zu sein…als es dann finanziell klappte, habe ich mich für das Studio und meine Familie entschieden“, sagt Gesa. „Yoga hilft mir auch in der Erziehung und in der Partnerschaft. Ich neige dazu, Christian zu kontrollieren. Gerade nach der Geburt habe ich das gemerkt, wir hatten einige Krisen.“ Oft kämen dann Gedanken in ihr auf, die sie an sich nicht mag. In solchen Momenten macht Gesa sich bewusst, dass sie sich annehmen muss, um ihre Ängste aufzulösen, die zu ihrem negativen Denken und Handeln führen.

In den vergangenen zehn Jahren ist Yoga in der westlichen, modernen Welt zum Trend geworden. Für viele steht der Sport im Fokus, anstatt sich mit der fernöstlichen Lebensweisheit auseinanderzusetzen, die hinter den Verrenkungen, Verbiegungen, Meditationen stehen. Gesa ist trotzdem froh, dass viele Menschen mit Yoga anfangen. „Ich finde das super. Man ist gesünder, hat mehr Kraft, fühlt sich im eigenen Körper wohler. Dadurch kommt man mehr zu sich, und das ist der Weg in die anderen Aspekte des Yoga. Die mentale Komponente folgt über den Körper.“

Den Hype um Yoga erklärt Gesa sich über das stresserfüllte Leben, das der Großteil der Weltbevölkerung führt. „Viele sind schon im Studium und in der Ausbildung so unzufrieden. Depressionen, Angstzustände und Rückenschmerzen sind Volkskrankheiten, die man durch Yoga mindern kann“, findet sie. Auch latente Unzufriedenheit im Alltag sei heilbar. „Man kann wieder glücklicher sein.“ Den Bedeutungsverlust von Religionen macht Gesa ebenfalls für den Yoga-Trend verantwortlich. „Religionsgemeinschaften schaffen Gruppenzusammenhalt. Heute fühlen sich viele verloren, mit Fragen und Ängsten alleingelassen. Sie sehen Verlust und Tod vor sich und finden im Yoga eine Antwort.“ Für Gesa ist klar: Yoga ist mehr als ein Sport, es ist eine Lebensphilosophie.

Gläubig war Gesa nie, konnte Gott, der Kirche, einer festgelegten Handlungsdoktrin für den Himmelsweg nichts abgewinnen. „Das arbeitet ganz viel mit Angst, Angst davor, in die Hölle zu kommen oder im zweiten Leben bestraft zu werden. Ist es nicht viel schöner, zu erkennen, wo die eigene Kraft liegt, wie man für sich und andere Zufriedenheit schaffen kann?“ Spirituell, das träfe auf sie. „Für mich sind Religion und Spiritualität verschieden. Ich finde es wichtig, dass man im Leben authentisch ist und nicht anderen predigt, sondern für sich schaut, was einen weiterbringt. Das kann man dann weitergeben, ohne andere belehren zu wollen. Andere Menschen sind nicht weniger wert, nur weil sie anders denken.“

Gesa sucht jenseits von Religion nach dem, was das Gute in jedem Menschen ausmacht, orientiert sich an den Lehren des Dalai Lama, Nelson Mandela. „Der gute Samen in einem Menschen ist vielleicht verschüttet durch Gewalt oder schlimme Erfahrungen, aber letztendlich hat jeder diesen Funken.“ Sie wünscht sich eine Gesellschaft — und ein Bildungssystem — ohne dauerhaftes Vergleichen, ohne Bewertungen anhand von Schulnoten, ohne dogmatische Schönheits- und Leistungsideale.

Gute Lehrer sind meiner Meinung nach die, die in ihren Schülern ihre eigenen Potenziale wecken können.

Ob sie einen großen Traum habe, den sie sich noch erfüllen will? „Mit meinem Bruder Musik machen, wir lieben Musik“, sagt Gesa, die selbst auch Gitarre spielt und singt. „Seine rechte Hand kann er noch nicht wieder gebrauchen, deswegen lernt er jetzt Horn. Wenn ich mit ihm zusammen Musik aufnehmen könnte für das Yoga, die stärkt, entspannt und durch eine Praxis trägt, das wäre genial…“ Wie sie dieses Vorhaben verwirklichen wird, weiß Gesa nicht, doch eine Einnahmequelle für ihren beeinträchtigten Bruder zu schaffen, treibt sie an. Sie selbst will nichts dabei verdienen, nur ihrem Bruder die Musik zurückgeben.

Ihr selbstloser, inspirierender Traum ist Ausspruch ihres wichtigsten Aspekts aus der Yoga-Philosophie: Mitgefühl, mit sich selbst und anderen. „Jeder kann es schaffen, gut mit sich und anderen umzugehen und das Gute in allem zu erkennen. Ja, es ist hart, es gibt Phasen, in denen man unzufrieden ist und nicht weiterweiß. Aber man kann es immer wieder schaffen!“

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Wissenswertes

Gesa Wilkens ist mit ihrem Partner Christian Steiger Inhaberin der zwei Kieler Yoga-Studios Yoga-Moment. Sie bieten wöchentlich 46 verschiedene Yoga-Stunden an und freuen sich über alle neuen Schülerinnen Schüler jedes Levels.

Dieses Interview entstand 2018 im Rahmen eines Yoga-Retreats in Kroatien.