Letzte Jagd- Kurzgeschichte - Lesezeit ca. 15 Minuten -


Kälte riss ihm die Haut von den Wangen, Tränen brannten in den Augenwinkeln, Eis verklebte Wimpern und Brauen. Der Pelz um seinen Kopf schützte ihn nicht mehr vor dem peitschenden Schnee, war getränkt von Erde, Salz, Blut, seinem eigenen Speichel. Der Lauf des Jagdgewehrs klopfte bei jedem Schritt durch das kniehohe Weiß auf seinen Rücken. Er fühlte es nicht, spürte nur noch das schwarze Loch in seinem Bauch und seiner Kehle, den Dunst in seinem Kopf. Ihm war schwindelig.

Zu verschwommen die Welt vor seinen Augen, zu viele Winter vergangen. Seine Knie schmerzten, seine Hände schmerzten, seine Ohren schmerzten, jeder Atemzug schmerzte, schob sich wie ein rostiges Drahtseil seine Brust und seinen Hals hinauf. Blaue Flecken auf Nase und Wangen.

Blau war auch einmal der Himmel gewesen. Doch nicht mehr jetzt, jetzt, wo die Welt sich nur noch zwischen Weiß und Grau drehte.

Er setzte den rechten Fuß vor, mühsam, keuchend. In seinen Stiefeln sammelte sich Schnee. Wie viele Zehen hatte er schon an die Kälte verloren? Zwei? Vier? Das war schon lange nicht mehr wichtig.

Der linke Fuß folgte, aus zwei Schritten wurde ein wiegender Gang. Bis zum nächsten Baum, dachte er. Bis zur nächsten verdammten Tanne in diesem verdammten Wald. Seine Hütte musste er verlassen, vor Wochen schon, kein sauberes Wasser mehr, keinen Strom, keine Wärme, keine Kartoffeln, kein Fleisch, nicht eine Unze Fett. Diese Lawine, dieser Sturm, sie allein waren schuld an seinem Leid. Sie hatten seine Stille in Leere verwandelt, den Bach versiegen lassen, Tiere vertrieben, das Dach seiner Hütte zum Einsturz gebracht. Die Schneemassen hatten seinem Zuhause ein weißes Grab bereitet.

Er wollte bittere Galle aus seinem Mund spucken, schaffte es nicht, war zu schwach. Er schluckte, ignorierte den Würgereiz, unterdrückte das Husten. Er musste stehenbleiben, ohne die Tanne erreicht zu haben. Wirbelnder Schnee fraß sich in seinen geöffneten Mund und er ließ ihn ein wie einen lieb gewonnen Freund, froh, seinen Durst zu stillen. Auf seiner geschwollenen Zunge zerrannen die Flocken, immer wieder, viel zu schnell.

Und dann sah er etwas.

Es stand keine zehn Meter vor ihm, die Gestalt umhüllt von dunstiger Luft, doch die warmen Augen blickten scharf zwischen den Ästen hindurch. Hufe scharrten. Die Nüstern weiteten sich, es roch ihn, wie er unter seiner Kluft schwitze, zitterte, stank und ächzte.

Der Mann verlagerte sein Gewicht auf seine Fußballen. Fell, dachte er, Fett. Fleisch.

Die zarten Beine steckten tief im Weiß, das Fell am Bauch streifte die Schneedecke. Dampfig ging der Atem zwischen Maul und Nüstern. Warmes, saftiges, zartes Fleisch. Wie lange könnte er von diesem Tier leben? Sechs Wochen? Zehn, wenn er sich Rücken, Schenkel, Hals gut einteilte. Genug, um das Loch in seinem Magen zu füllen, genug, um zu spüren, wie Wärme ihn durchströmte, wie seine Zähne sich in Essbares gruben – sein Mund füllte sich mit Speichel, der ihm über das Kinn troff. Genug.

Er lauschte. Das Reh rührte sich nicht. Starre, dachte der Mann. Es fürchtet mich.

Mit blauen Fingerspitzen suchte er auf seinem Rücken nach dem Gewehr, zog die Tragschlaufe um die Schulter, fingerte an der Zündung, kratzte mit den Fingernägeln am Abzug. Er schob den Lauf des Gewehrs in die Armbeuge. Einen halben Meter nach links. Er kniff die Augen zusammen, löste den Finger nicht vom Abzug.

Das Reh warf den Kopf zur Seite. Hatte es seine Gedanken gehört? Doch es wirkte nicht verängstigt: Das Fell blieb glatt auf dem Körper ruhen, die Wimpern weit geöffnet, die Knie gebeugt. Ein anmaßendes Tier, dachte der Mann bei sich. Zu stolz.

Das Reh schaute ihn an und er schaute zurück.

Wirst du mich nun töten?, fragte es mit seinen warmen Augen. Er antwortete nicht, konnte es nicht, war der klaren Sprache dieser Augen plötzlich nicht gewachsen und blinzelte. Das Reh legte ein Ohr an. Der Mann dachte, es sah aus, als würde es seufzen.

Das habe ich mir gedacht, sagten die Augen. Er blieb stumm.

Du willst mein Fleisch, stellte es nüchtern fest.

Ja, dachte er. Ich habe solchen Hunger.

Hunger ist gut, sagte es, und lehnte sich näher in seine Richtung, als wollte es ein Geheimnis mit ihm teilen, das man lieber ganz nah beieinander besprach, so nah, dass man den Atem des anderen auf dem Gesicht spürte; Worte, die man nicht zwischen einer riesigen Wehe Schnee und dicht stehenden Gebirgstannen aussprechen konnte. Hunger zeigt dir, dass du noch am Leben bist. Hunger macht dich stark.

Ich will nicht mehr stark sein, dachte der Mann. Sein Zeigefinger zitterte so stark am Abzug, dass er sicher war, er würde nicht mehr lange aushalten. Schuss. Knall. Tot.

Das Reh rührte sich nicht.

Lauf weg, dachte er, schloss die Augen. Wenn er sie wieder öffnete, würde das Tier verschwunden sein, ganz sicher, seinen zarten Kopf ducken, durch die Hügel springen, ihn verlassen. Vier, fünf, sechs, zählte er. Wie lange musste er warten, bis er sicher sein konnte, nur noch Tannen, Eis, seinen Atem vor sich zu sehen? Sieben, acht.

Und da waren die Augen wieder, sahen ihn unverwandt an, straften seine Gier, seine Lügen.

Warum tust du mir das an, fragte er.

Warum tust du dir das an, fragte das Reh, unbeweglich unter einer Astspitze, an deren Ende ein Eiszapfen herabhing, die Spitze direkt über der Stirn.

Vor seinen Augen tauchten Bilder auf, urplötzlich, und er konnte nicht sagen, woher sie kamen, konnte nur spüren, dass sie dort waren, in seinem Kopf, wie sie ihn in unbeschwerte Tage versetzen, in denen er noch ein Junge gewesen war – damals hatte die Sonne geschienen, er hatte sich den Bauch vollgeschlagen mit Erdbeeren und Brombeeren und süßer Sahne, unter ihm das duftende Gras. Er hatte die Bienen summen gehört, hatte Schmetterlinge auf ihrem Flug beobachtet, die Punkte auf ihren Schwingen gezählt, Farben jenseits von Weiß und Grau erkannt. Er erinnerte sich an sein unschuldiges, kleines Gesicht, jung, blonde Locken zu rosigen Wangen. Seine Stimme, die ewig lachte und staunte. Finger, die nach Blättern und Steinen griffen, noch nicht verstanden, warum das Wasser floss oder wie Sonnentage schmeckten. Er dachte an das Tanzen des Sonnenscheins unter Wasser. Wie das Gras mit dem Tau des frühen Morgens benetzt und die Blätter des Apfelbaums vom Regen der Nacht schwer waren –

ein Ast knackte. Das Reh blinzelte einmal, zweimal. Der Mann schob seinen Daumen unter den Zeigefinger, spannte den Abzug, wollte mit dem Schuss auch die Bilder in ihm in den Tod zwingen.

Das Reh hatte einen schwarzen Fleck direkt über den Nüstern, eine scharfe Sichel, darunter weiße Sprenkel, um das Maul zarten Flaum, über dem linken Knie dunkelbraune Ringel. Ringel wie auf Socken, die um seine eigenen schmalen Knöchel schlackerten; er hatte sie so sehr geliebt, diese Socken, sie gehörten seinem Vater, waren stets zu groß für einen kleinen Jungen und fühlten sich doch genauso warm und weich an wie die Umarmung des Mannes, der längst an einen anderen Ort verschwunden war, damals, als die Welt umkippte und auf der Seite liegenblieb. Schuss. Knall. Tot.

Seine Schulter ächzte, im Gelenk knackte es, seine Finger krampften, er konnte nicht, er wollte nicht – er ließ das Gewehr fallen. Es versank im Schnee. Er sah den warmen Augen entgegen, Wimpern schlugen auf und ab. Dann senkte es den Kopf, so tief hinunter, dass er die Rückseite seines Halses sehen konnte, die festen Muskeln darunter, das Fell direkt hinter den Ohren. Er kniff seine Augen zusammen. Als er sie öffnete, war da nur noch Weiß, endlos. Der Mann sank auf die Knie und dachte an sonnengelbe Rapsfelder und blutrote Mohnwiesen und moosbedeckte Bachläufe und die Ringelsocken seines Vaters. Ob sie ihm passten, jetzt, wo sie sich gleich wiedersehen würden?

Er lächelte und schloss die Augen.

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Wissenswertes

Diese Geschichte schrieb ich im Januar 2019. Sie nahm (leider ohne Platzierung) am diesjährigen Kempowski Literaturpreis der Hamburger Autorenvereinigung teil.