Meer aus Glas- Kurzgeschichte: Lesezeit ca. 20 Minuten -


Da sind wir auf dem Foto, lächeln aus dem Rahmen zu Menschen empor, die wir von dort nicht sehen können. Wir, unsere Kinder Joost und Marie, und unser Hund, Schoko, ein brauner Labrador mit großen Schlappohren und seinem grünen Tennisball im Maul.

Wir sind festgehalten für die Ewigkeit auf diesem Stück Glanzpapier. Jahre ist es her, seit wir auf diesem Strandstück standen, um uns herum die Dünen, hinter uns der Strandhafer, das Meer, die Küste von Porto Pino. Es war ein heißer Sommer auf Sardinien, damals, als wir bunte Kleider und Strohhüte trugen, noch Fotos mit einer echten großen Kamera von uns machten und selten den Wunsch verspürten, auf eine Uhr zu blicken. Zeit war relativ.

Das wir von damals gibt es nicht mehr. Es ging verloren, irgendwo zwischen Bilderrahmen und Sand. Rutschte aus den Händen, entglitt immer wieder durch feine Ritzen, dünn wie Wolkenrauch. Marie und Joost kommen mir in den Sinn: wie sie versuchten, Nebel mit bloßen Händen zu fangen und in Einmachgläsern festzuhalten. Ja, das ist es, was dem Wir widerfuhr. Es war zu groß für das Glas. Und die Scherben, die blieben, sprachen eine fremde Sprache.

Zu meinen Füßen liegt Schoko, kaut auf seinem Ball, der halb verrottet ist. Ich bringe es nicht übers Herz, ihm sein Spielzeug wegzunehmen. Außerdem wärmt er meine Füße, wenn sie kalt sind. Mein Herz, wenn es wehtut. Sein Fell riecht immer noch nach Sand und Sonne und Salzwasser. Ob er sich erinnert, dass da einmal drei Menschen mehr waren, die ihn fütterten, streichelten, seinen Ball warfen?

Das Gedächtnis eines Labradors, das wünsche ich mir an Tagen wie heute. Und sein Vertrauen darin, dass es für den Moment genügte, auf einem alten Ball herumzubeißen. In so wehmütiger Stimmung bin ich länger nicht gewesen, trotzdem kann ich nichts dagegen tun. Möglicherweise will ich es auch gar nicht. Denn etwas dagegen zu tun, gegen meine Erinnerungen an ein anderes Leben, das wäre doch Verleugnung. Auch wenn die Wirklichkeit heute anders aussehen mag, so ist doch auch die Erinnerung real. Oder etwa nicht? Mache ich mir etwas vor, wenn ich in Tagträumen verweile und mich am Duft des Fells eines Labradors festklammere, der sein ganzes Erinnerungsvermögen so kompakt zusammenschrumpfen kann, dass ihn etwas, das vor zehn, zwölf, beinahe fünfzehn Jahren war, nicht mehr berührt? Ihn, Schoko, kümmert es nicht, was war, was sein wird. Er kaut auf seinem Ball, und nichts kann ihm diesen Moment trüben. In mir dagegen bebt es, ein Meer aus Emotionen bricht an den Ufern meines Herzens. Nichts, was ich tun würde, könnte die Wellen stoppen — und das Meer kann nichts ertränken, was ich ihm so gerne anvertraut hätte.

Ich nehme Schoko den Ball aus dem Maul. Er fiept, glücklich, denn er hat nur sein Spiel im Sinn. Ich stehe auf, gehe zur offenen Glastür, dahinter der Strand und das Wasser. Die Wellen sind seicht heute. Es riecht nach Salz und Fisch. Mit einer ausladenden Bewegung werfe ich den Ball in Richtung der Schaumkronen. Schoko rast an meinen Waden vorbei, streift mit seiner Rute meine Beine, freudig erregt, seine Augen nur auf den grünen Ball gerichtet, der außerhalb meines Sichtfelds landet. Der Hund verschwindet. Das Kommen und Gehen der Wellen bleibt. Meine Augen fixieren ihr Spiel. Ich höre sie, als würde ich direkt in ihnen stehen. Spüre an meinen Füßen, wie kalt das Wasser ist.

Marie und Joost kommen nur noch selten hierher. Meistens im Winter, zu Weihnachten, wenn wir uns vor lauter Pflichterfüllung Pecorino, die lokalen Artischocken und Carasu-Brot in die Münder schieben und alles ungesagt lassen, was hätte gesagt werden können. Sie sind mir fremd geworden. Wir sind uns fremd geworden. Vielleicht liegt es daran, dass sie Papakinder waren, schon immer. Vielleicht, weil ihnen andere Erinnerungen wichtig sind, die nichts mit dem Meer und unserem Haus bei Porto Pino zu tun haben. Gibt es das, komplett konträre Erinnerungen an dieselbe Zeit am selben Ort?

*

„Geh“, sagte er, „geh mir aus der Sonne.“

Er hielt sich die Hand über die Stirn, die andere baumelte träge am Lehnstuhl herunter.

„Hast du Lust auf einen Spaziergang?“

„Aus der Sonne gehen sollst du!“

„Mal ehrlich, Jewe, wenn du den ganzen Sommer nur auf diesem Stuhl zubringst und ab und zu mal diese widerlichen Hotdogs auf den Grill wirfst, werden die Kinder…“

„Ach, Jannecke, mach mal halblang.“ Er kniff die Augen zusammen, als würde die Sonne ihn blenden, obwohl ich weiterhin genau über ihm aufragte und meinen Schatten auf ihn warf.

„Halblang womit?“

„Kann ein Mann nicht mal ein paar Tage in Ruhe auf seinem Gartenstuhl genießen? Du solltest mitmachen. Dich entspannen. Würde dir gut tun, weißt du.“

„Du hast getrunken.“

„Und wenn schon.“

„Es ist halb drei am Nachmittag.“

„Und wenn es elf Uhr am Vormittag wäre, verdammt, Jannecke! Lass mich zufrieden mit deiner Meckerei.“

„Wenn die Kinder dich so sehen…“

„Den Kindern ist vollkommen egal, was ich den ganzen Tag mache, solange sie abends ihre Eistüten bekommen, sich vor den Fernseher setzen können und eine Nachtwanderung am Strand machen dürfen. Soll mir recht sein, wenn du mich fragst.“

„Du kannst sie nicht abschieben, als wären sie nur lästige Begleiter deines Urlaubs.“

Er nahm die Hand von seiner Stirn, nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Cocktailglas, in dem eine leuchtend rote Kirsche schwamm, und schloss dann die Augen. Tropfen klebten ihm an der Unterlippe. Es gab Tage, da hätte ich mich in solchen Momenten zu einem Kuss hinreißen lassen, der dazu geführt hätte, dass er mich, seine Hände in meinen Haaren, zu ihm auf die Liege gezogen hätte. „Hol dir selbst mal eine Tüte Eis. Entspann dich. Ist ziemlich nervig mit dir, wenn du immer nur rumrennst und uns nicht mal in Ruhe lassen kannst.“

Er trank viel diesen Sommer, und er wusste, dass ich ihn beobachtete. Allein deswegen riss er sich zusammen, wenn er den Kindern abends zur Eisdiele folgte, ihnen drei Kugeln mit Sahne erlaubte und auf dem ganzen Weg zurück Witze riss. Er wollte mir beweisen, wie sehr er seine Fassade perfektioniert hatte, das war mir klar.

Er verbrachte auch den Rest des Urlaubs trinkend auf dem Liegestuhl, ging hin und wieder mit den Kindern durch die Dünen, ließ sie bis spät in der Nacht Filme ansehen, die sie nicht verstanden, aber trotzdem ansehen wollten: „Mama, sei kein Spielverderber!“

Das war mein Job in diesem Sommer: Spielverderber.

Die Kinder dagegen liebten ihn, den Vater, der immer lustig, immer gut gelaunt war. Der Vater, der auf Sardinien so viele interessante Leute kannte, der alles möglich machte, das Geld für den Urlaub verdiente, ihnen versprach, sie später auf die Universität im Ausland zu schicken, ihnen teure Kleidung, Computer und Handys kaufte. Dass sie etwas Besseres seien, sagte er ihnen immer wieder. Sie seien besonders, seine Schätze, sein großer Traum. Sie hätten es besser verdient.

„Besser als wer, Papa?“

„Besser als eure Mutter. Von ihren Bildern kann ja keiner Leben. Nicht wahr?“

„Stimmt.“

Und die Kinder rümpften die Nasen, wenn sie sahen, dass ich an der Staffelei stand und malte.

„Papa sagt, dass es keinen Sinn hat, dass du malst“, sagte Joost, als er, in ein Handtuch gewickelt und mit Sand an den Füßen, durch die Küche ins Haus kam, wo ich dasaß und eine Düne für ein größeres Ölbild skizzierte. Ich legte den Stift beiseite.

„Glaubst du das wirklich, mein Schatz?“

Er legte den Kopf schief und kam näher, sah sich die Skizze an. Wasser tropfte aus seinen Haaren auf das Papier.

„Was soll das da sein?“ Er zeigte auf einen Bereich, den ich dunkel schraffiert hatte.

„Das ist der Teil der Düne, der im Schatten liegt. Dort fällt keine Sonne hin. Deswegen habe ich mir in der Skizze markiert, dass die Düne dort später eine andere Farbe bekommt als der Rest des Bildes.“

„Hm“, machte er, kniff die Augen zusammen, weil ihm Salzwasser aus den Haarspitzen in die Augen tropfte. „Es sieht komisch aus.“

„Wenn das richtige Bild in Öl fertig ist, zeige ich dir, dass es fast genauso aussieht wie die Aussicht da draußen.“

„Hm“, machte er wieder. Dann drehte er sich um und rannte, sein Handtuch wie einen Umhang flatternd, wieder nach draußen. Seine Kinderfüße hinterließen Sandspuren auf den Dielen.

Ich wollte mir ein Eis kaufen, wirklich. Und ich ging gerne auf den Markt im antiken Dorf, um mir die Beine zu vertreten, mich von Jewe abzulenken und die Menschen zu beobachten, die ihr weniges Geld für Lebensmittel ausgaben, die sie zwar im nächsten Supermarkt mittlerweile günstiger, aber niemals von so guter Qualität bekommen würden. Aber dann sah ich ihn.

Er hatte diesen Stand ganz hinten links auf dem Platz, jeden Montag und Donnerstag in seinem Wagen stand er hinter der Auslage: langes braunes Haar, undefinierbares Alter irgendwo zwischen vierzig und sechzig, schlank, übergroß, dunkel, tiefliegende Falten um seine Augen, quer über der Stirn. Er verkaufte Gewürze und Kräuter, Teeblätter, hin und wieder auch ein paar Gläser selbstgemachte Marmelade aus Früchten, die er in den Wäldern abseits der nächsten Dörfer gesammelt hatte, Mandeln und auch Honig.

Ich wanderte gedankenverloren an seinem Stand vorbei, hatte schon einen Strauß Wildblumen, vier dicke Auberginen und ein paar Oliven und Artischocken gekauft. Ich glaube, es war seine Stimme, die mich stehenblieben ließ: tief wie Meeresgrollen vor einem Sturm, irgendwie bedrohlich und doch anziehend. Er schwatzte gerade mit einer Frau in ausgetretenen Sandalen, sie kaufte aus den Leinenbeuteln etwas getrockneten Rosmarin, Zwiebeln, Zitronenmelisse für einen Tee. Er sorge sich um seine beiden Söhne, erzählte er ihr, sie wollten Biolandbauern werden, wie er damals in den Siebzigern noch eine Weile nach Frankreich reisen, sich mit der hiesigen Pflanzenwelt beschäftigen. Die Frau lachte und tätschelte ihm über die Auslage hinweg die Wange, er seufzte theatralisch, sie lachte wieder und gab ihm das Geld für die getrockneten Rosenblüten, die er ihr liebevoll in einem Päckchen mit Bastschnur verpackt hatte.

Wie der Mann hieß, wusste ich nicht, und ich wollte schon weitergehen, da rief er mir tatsächlich hinterher. „Guten Morgen, Schöne! Wie geht es dir? Was kann ich für dich tun?“, und seine Stimme war so einnehmend, allumfassend, ich spürte das Meer auf meiner Haut, dass ich den Mund aufmachte, kein Wort herausbrachte und einfach nur sein Lächeln sah. „Komm rüber, was darf es heute für dich sein?“ Er winkte tatsächlich mit seinem Schöpflöffel.

Kannte er mich? Was wollte er von mir? Wusste er, dass ich Urlauberin hier war, mit meiner Familie? Waren wir mittlerweile so bekannt im Ort? Hatte er mitbekommen, wie man über uns sprach? Mit der kleinen Schaufel deutete er auf ein Glas mit rosafarbenen Pfefferkörnern: „Perfekt für deine Auberginen, wenn du mich fragst.“ Dass der Mann mich wie eine Freundin duzte, wunderte mich nicht — es störte mich noch nicht mal. Langsam ging ich zu seinem Stand hinüber, die Wildblumen in der Armbeuge.

„Jetzt wird es ein guter Tag“, begrüßte er mich wieder, als ich vor seiner Auslage stand. Ohne auf ein einziges Wort von mir zu warten, nahm er sein Schäufelchen, eine Papiertüte und füllte aus sechs verschiedenen Leinenbeuteln Zutaten hinein, die für mich nicht mehr waren als getrocknete Blätter, seltsame Zweige und verfallene Blumenköpfe, die ich vermutlich in die Biotonne gekehrt hätte.

„Kochst du gerne?“, fragte er, während er schaufelte.

„Ja, doch.“ Warum war meine Stimme so schwach? Das war doch bloß noch ein Flüstern.

„Und was hast du gekocht, gestern zum Beispiel?“

Ich runzelte die Stirn, überlegte. „Etwas Salat mit Brot und Käse…“

„Pah“, machte er und reichte mir die volle Papiertüte, aus der es überraschend angenehm duftete, eine Mischung aus salzig und zitronenfrisch, und darunter etwas würzig Warmes. Dazu reichte er mir eine zweite Tüte.

„Das ist kein Kochen. Und das ist keine Mahlzeit für die Seele.“

„Ach, Lu, nun lass die Signorina doch zufrieden“, sagte jemand neben mir — ich hatte gar nicht bemerkt, dass da ein anderer Kunde hinter mich getreten war und geduldig wartete. „Sprich mit ihr übers Essen und philosophiere nicht wieder über metaphysische Dualität.“

„Dein Sarkasmus versalzt dir deine Suppen, Guido“, antwortete der Mann, von dem ich jetzt wusste, dass er Lu hieß. „Und gleichzeitig ist er wiederum Freude für meine Seele.“

„Na dann.“

„Also, mit diesen Kräutern“, und Lu wandte seine ganze Aufmerksamkeit und seine Stimme wieder mir und den Tüten zu, dich ich nicht bestellt hatte und die jetzt unter meinem anderen Arm klemmten, „machst du dir heute ein Festmahl. Das wird dir gut tun an diesem herrlichen Tag.“ Lu kam mit einem unerwarteten Satz aus seinem Wagen. „Warte kurz hier. Guido, hast du mal einen Zwanziger?“

Ehe ich einwenden konnte, dass das Tütchen mit Kräutern doch nicht so kostspielig sein konnte und ich auch mein eigenes Geld dabei hatte, schnippte Lu ungeduldig mit den Fingern vor der Nase des Kunden namens Guido herum, riss den Schein an sich und stapfte über den Marktplatz davon. Von der Schlange, die sich hinter Guido langsam an seinem Wagen bildete, ließ er sich gar nicht beirren. Er hatte nicht mal abgeschlossen. Wie ging dieser Mensch bloß durchs Leben? Woher nahm er dieses blinde Vertrauen? Die Kasse stand offen unter der Theke, ich hätte die Tageseinnahmen einfach mitgehen lassen, mit Guido teilen oder mir noch mehr Kräuter aussuchen können — der Trüffel sah ziemlich lecker aus. Ob dieser Lu so ein Mann war, der sein Leben ganz dem Zufall überließ? Oder war er einfach nur leichtsinnig?

Schon sprang Lu wieder herbei, gab Guido ein paar Münzen in die Hand und reichte mir einen Packen frischen Schinken, etwas Ziegenkäse, einen Bund grünen Spargel, eine kleine Birne und ein Päckchen Butter mit Salz. „Erst das Fleisch braten, den Spargel und deine Auberginen kurz mit andünsten, Butter darüber, dazu ein schön warmes Carasu. Meine Kräutermischung gibst du zum Schluss dazu, aber nicht mehr braten! Die Birne schneidest du in feine Spalten, streust etwas Zucker darüber und isst sie mit dem Käse zum Dessert. Alles klar?“

Seine Augen waren so dunkel wie seine Stimme, ich nickte nur. Ich dankte stumm und wollte, beladen, wie ich war, nach Hause, da spürte ich eine schwere Hand auf meiner Schulter. Lu sah mir lächelnd ins Gesicht. „Ich heiße Laureano Gagliardi, nenn mich einfach Lu. Komm morgen wieder, wenn es dir geschmeckt hat.“

Am Abend war Jewe mit den Kindern immer noch unterwegs. Ich aß jeden Bissen, dachte an Laureano Gagliardi, das lange Haar, das gelebte Leben, diese samtene dunkle Stimme, die Lachfalten um seine Augen. Den Rest der Butter tunkte ich mit den Fingern vom Teller, dann lehnte ich mich zurück, rauchte eine Zigarette und stellte mir vor, vor meinem nächtlichen Fenster fliederfarbene Weinfelder zu sehen, spürte die Brise auf den Wangen, die durch die Reben fuhr; fast konnte ich die Pinienwälder riechen, warm von der Abendsonne, die Spitzen rot getaucht.

Ich ging wieder zum Marktplatz, am Morgen, als die letzten Händler ihre Stände abbauten und Holzpaletten auf Pick-ups luden. Lu stand an seinen Wagen gelehnt und sah mir entgegen. Seine Unterarme waren sehnig, ich spürte den heftigen Drang, mit meinen Fingern entlang der hervorstechenden Linien zu fahren, die Wölbungen unter meinen Fingerspitzen wahrzunehmen, mehr von seinem Körper zu ertasten. Ich musste stehenbleiben, ein paar Schritte vor ihm. Er löste seine Arme aus der Verschränkung und lächelte mir offen entgegen, die tiefen Falten um seinen Mund machten sein Gesicht nur noch sinnlicher.

„Hat es dir geschmeckt?“

„Ich will nie wieder etwas anderes essen“, antwortete ich.

„Okay“, sagte er, und ich wusste, dass es genau das war: Okay. Es war ein Angebot. Ein Versprechen? Okay, lass uns gemeinsam nie wieder etwas anderes essen.

Wir gingen zusammen ein Stück, eine der Gassen hinunter, in denen zwischen den Häuserzeilen zu beiden Seiten noch Wäsche aufgehängt wurde, wo sich alte Frauen von Balkon zu Balkon Kaffeebecher reichten und Spaziergänger beobachteten. Wie zufällig streiften Lu’s Hände immer wieder meinen Arm, mal tappte seine Schulter sachte gegen meine, seine Schritte tänzelten so nah neben meinen Füßen, ehe sie sich wieder entfernten. Das Spiel unserer Schatten vor uns auf dem sandigen Weg gefiel mir, und am liebsten hätte ich meinen Schatten mit seinem verschmelzen lassen, bis wir nicht mehr voneinander zu unterscheiden waren. An einem Kiosk kaufte er uns zwei Flaschen Coca Cola, die wir im Gehen tranken. Die Limonade war klebrig auf meinen Lippen. Lu trank in großen Schlucken, bei denen sein Adamsapfel hüpfte, seine Kiefermuskeln mahlten. Er musste sich seiner Wirkung doch bewusst sein. Er war ein Mann, ein verdammt gut aussehender noch dazu, er wusste ganz genau, was er da tat. Für ihn war das hier sicher nur ein typischer Urlaubsflirt — das machte er doch mit allen Frauen so. Oder etwa nicht? Warum hatte er nicht längst eindeutig zweideutige Andeutungen gemacht? Ging das nicht so, flirten? Wie funktionierte das überhaupt? War ich zu alt dafür, weil ich zwei Kinder und seit zwölf Jahren einen Mann hatte, der nicht mal in der Anfangsphase unserer Beziehung dazu in der Lage war, eine romantische Geste zu zeigen? Warum hatten wir überhaupt geheiratet?

Lu ging entspannt neben mir, eine Stunde, dann zwei, ohne viele Worte zu wechseln. Seine Gesten waren mir Unterhaltung genug: Er deutete auf verfallene Hauseingänge, die einmal zu einer edlen Schmiede gehört hatten, zeigte auf winzige Gassen, in denen tatsächlich Galerien Bilder sardinischer Maler ausstellten, beschrieb, wie sehr er den rosafarbenen Sand der Küste liebte, malte mit seinen Händen Momente in die Luft, die er mit seinen Söhnen hier auf Sardinien verbracht hatte, bis sie aufs Festland gegangen waren. Er fragte mich nicht viel über mich, und ich fragte ihn kaum etwas über ihn. Es war nicht nötig. Wir tranken einen starken Kaffee im Stehen, auf dem Rückweg, dann standen wir wieder am Marktplatz. Unsere Blicke trafen sich.

Es war ein Kuss — ein Hauch auf den Lippen, weich und köstlich und warm und ich wollte nicht, dass es aufhörte. Er legte seine Lippen nur zart auf meine, unser Moment dauerte nicht länger als drei oder vier Sekunden, doch sie bewegten mich so tief, dass mir Tränen aufstiegen. Er hielt meine Hand, als wir uns küssten. Ich lehnte mich an ihn, fühlte mich sicher. Sein Haar kitzelte meine Wange, diesen einen Moment. Dann öffnete ich meine Augen, sah, dass er lächelte, seine freie Hand hob und an meine Wange legte, etwas flüsterte, das ich nicht verstand. Sterne, sprach er von Sternen?

Und als ich den Kopf schüttelte, mich zur Seite wandte, um die Tränen wegzuwischen, da sah ich sie. Sie hielten die Hände ihres Vaters, trugen ihre Eistüten, verschmierte Münder, eben noch zum genüsslichen Grinsen verzogen, eben noch voller Leben, eben noch sicher, dass die Welt in Ordnung war. Beide sahen mich an, mit ihren Kinderaugen, unschuldig und jung, so jung — und Jewe sah mich an, nicht verletzt oder gar wütend. Es war ein Blick voller Trauer und zugleich Zuneigung, die ich in diesem Moment, in dem ich einen anderen Mann küsste, nicht verstand. Erst später wurde mir klar, dass Jewe sah, was er bereits wusste: dass ich einen anderen Menschen als ihn brauchte, der mich ganz machte.

Unsere Blicke, Jewe und meine, verschwammen ineinander, als die Kinder schon an ihm zogen, die Eistüten fallenließen und Dinge riefen, die ich nicht verstand. Wir sahen uns nur an und wussten, dass dies hier, dieser laue Sommerabend auf einem Marktplatz von Porto Pino, ein Ende und ein Anfang war.

Was dann geschah, wie die Kinder brüllten, mit ihrem Vater verschwanden, ihre Sachen packten, mich zurückließen, allein mit dem Welpen Schoko, wie Lu in seinen Wagen stieg und mich ebenso verließ, weil er weiterziehen musste, das alles sehe ich nur noch unter einem dunstigen Schleier — aber ich spüre noch immer die sanften Lippen auf meinen, weil sie mich befreit haben.

*

Wasser umspült meine Füße. Zwischen meinen Zehen spüre ich den kalten, von Muschelsplittern durchzogenen Sand. Der Wind kommt von Osten, wird stärker, lässt meine Haare wie Spinnweben um mein Gesicht peitschen. Ich kann den Horizont in den fast schwarzen Wolken nicht mehr erkennen. Schoko drückt seinen schwer atmenden, weichen, warmen Körper an meine rechte Wade und winselt, er hat Unwetter noch nie besonders gemocht. Ich starre weiter hinaus auf das Wasser, halte mich selbst fest, meine Arme um meinen Oberkörper geschlungen. Schoko drückt seine Schnauze gegen meinen Oberschenkel, ich spüre seine feuchte Nase. Er sollte nicht hier draußen bei mir sein, das weiß ich, aber ich weiß auch, dass er nicht von meiner Seite weichen wird, bis ich mich wieder bewege.

*

Ich wusste damals, was Jewe sagen würde, hätten wir miteinander gesprochen: dass ich mich bloß von einem schmierigen Italiener hatte verführen lassen, dem nichts an mir lag. Dass ich mich für Eiscreme, dunkle sanfte Augen und Küsse, die nach Kaffee und Coca Cola schmeckten, vergessen hatte. Dass ich eine schlechte Mutter war. Und dann diese Szene, vor den Augen der Kinder.

Ich wusste auch, ohne dass wir uns gegenüberstehen mussten, was ich ihm antworten würde: dass er ein schlechter Vater sei, die Kinder nur im angetrunkenen Zustand ertrug, sich ihre Liebe genauso mit Eiscreme und Coca Cola erkaufte wie Lu es vielleicht mit mir getan hätte — für diesen einen gestohlenen Moment. Jewe dagegen stahl keine Momente der Liebe. Er erzwang die Liebe seiner eigenen Kinder, in dem er sie von sich abhängig machte. Und war ich als Mutter nicht immer mit dem Beispiel vorangegangen, dass meine Kinder unabhängig sein sollten? Sich nie so sehr an jemanden binden sollten, dass sie sich gefangen fühlten? War nicht das genau das, das ihr Vater aber mit ihnen tat? Und wie sollten sie denn damals schon, mit ihren Kinderseelen, wissen, dass sie an einen Menschen geraten waren, der genau das mit ihnen tat, wovor ich sie beschützen wollte?

Eigentlich hatte ich die Jahre zuvor immer angenommen, Jewe und ich, wir seien auf derselben Seite. Zumindest bei der Erziehung unserer Kinder. Und dann stand ich doch mit feuchten Händen und harten Lippen vor unserem Ferienhaus auf dem Gehweg, es dämmerte, die Luft roch salzig und warm, und ich war allein. Ich malte mir aus, wie Jewes Silhouette sich hinter den Vorhängen vom Schlafzimmer der Kinder in einem fremden Hotel abhob. Ob er ihnen eingeschärft hatte, Mama nicht mehr zu trauen, weil Mama schlecht war, weil Mama unsere Familie auseinander trieb, weil Mama nichts anderes liebte als ihre schrecklichen Bilder und fremde Männer? Dass Mama nicht mehr ihre Mutter war, dass jetzt nur noch Papa zählte?

Vielleicht hätte ich in diesem Moment, als ich sie auf dem Markt sah, auf sie zu stürmen, Jewe aus dem Weg stoßen, mich zu den Kindern drängen und sie in meine Arme ziehen sollen. Und während ich ihren wundervollen Kinderduft einatmete und sich die Welt anfühlte, als sei sie in Ordnung, müsste ich ihnen sagen, dass genau das passieren würde: Alles würde wieder in Ordnung kommen.

Aber ich tat nichts. Habe bis heute nichts getan.

Mein Körper fühlte sich schwer an, schwerer noch, als ich mich damals gefühlt hatte, als ich mit dem Rollstuhl auf die Geburtsstation geschoben werden musste, weil Marie mir solche Schmerzen im Leib beibrachte, dass ich Angst hatte, für immer ohnmächtig zu werden.

Ob sich ihr Schmerz damals so ähnlich anfühlte wie meiner, als ich sie zur Welt brachte? Schrie sie vor Wut, Angst und Verzweiflung in ihr Kissen, krampften sich ihre Hände, bis die Nägel blutige Ringe in die Handballen trieben, schlug sie sich einen Zahn am Bettpfosten aus, fühlte sich ihr Unterleib an, als risse man alles Leben aus ihr heraus, statt neues in die Welt zu ziehen?

Vielleicht. Vielleicht war der Schmerz, den ich meiner Tochter bereitete, aber auch so still, dass ich ihn erst Jahre später bemerken würde, wenn er unangekündigt an meiner Tür klingelte und behauptete, der Grund für Jahre voller Abneigung und Abkapselung zu sein. Pflaster würden hier nicht helfen, wie gern ich auch einen der bunten Dinos auf ihre Stirn geklebt hätte.

Und Joost — war sein Vater für ihn heute ein Mann, zu dem er aufschauen konnte? Das wollte jeder Junge vermutlich, aber einen Vater wie Jewe, dachte ich damals und denke ich jetzt, nein, Joost, bitte, zu einem Vater wie deinem sollst du nicht aufschauen. Bitte, werde nicht wie er. Bitte, halte deine Schwester im Arm und erlaube dir selbst, zu weinen, wenn du deine Mutter nicht mehr verstehst. Aber bitte, bitte — glaube nicht daran, dass dein Vater ein Mann ist, der immer für dich da sein wird. Dass dein Vater ein Mann ist, auf den du dich verlassen kannst. Dass er ein Mann mit Werten ist, die du für dein Leben übernehmen solltest.

Das Meer funkelt, ich muss blinzeln. Schoko winselt, ihm ist kalt. Es erinnert mich plötzlich daran, wie im Winter der frisch gefallene Schnee in den ersten Sonnenstrahlen am Morgen glitzerte. Tausende Perlen, die das Licht reflektierten, um die Wette funkelten. Der Schatten der tiefhängenden Blätter des Haselnussbusches daneben. Und das Gefühl, in einen Moment eingetaucht zu sein, den nichts in seiner Vollkommenheit brechen könnte.

Diese Morgende, die gehörten mir allein, denn weder die Kinder noch Jewe wären auf die Idee gekommen, sich noch im Schlafanzug und mit Gummistiefeln in den Schnee zu hocken und die Eiskristalle zu beobachten, wenn es drinnen am Ofen behaglich war, die Waffeln auf dem Herd brutzelten und der Kakao schon in den Bechern auf dem Wohnzimmertisch dampfte. Ich erinnere mich: Eigentlich waren sie nur dann freiwillig nach draußen gegangen, wenn Jewe und ich mit ihnen nach Porto Pino fuhren, zu unserem Meer an diesem einsamen Strand. Dort, wo sie keinen ihrer Freunde erreichen konnten, wo sie dazu gezwungen waren, sich auf das zu konzentrieren, was den Großteil ihres Blickfelds einnahm. Habe ich versagt, als Mutter? Habe ich darin versagt ihnen zu zeigen, wie wunderschön die Augenblicke sind, wenn man das erste Grün aus der Erde spriessen sieht, die ersten Sonnenstrahlen auf der müden Winterhaut spürt, wenn man eine Hand durch den Hafer auf dem Feld fahren lässt, wenn er sich im Wind wiegt? Die Natur war immer schon mein Rückzugsort gewesen. Ob sie andere Kinder geworden wären, hätte ich sie mitgenommen? Hätten sie mich verstanden, oder das, was ich getan habe? Wäre es ihnen leichter gefallen, die Frau zu verstehen, die ich immer noch bin, hinter der Fassade der Mutter? Ist es denn nicht mein Recht, auch jemand anderes zu sein als Mama, Mama, Mama?

Ich knie mich in den Sand und lasse Schoko seinen Kopf auf meinen Schoß betten. Seine Rute wedelt den feuchten Sand auf.

Das ist der Preis, für den ich mich entschieden habe. Das ist die Bürde, die ich mir damals auferlegte. Ein Leben ohne Jewe, ohne die Geborgenheit einer Liebe zwischen zwei Menschen, die sich einmal füreinander entschieden haben und trotz aller Schwierigkeiten zueinander halten. Ein Leben ohne Joost, ohne Marie, ohne die Kinderwärme, die ich so sehr liebte, als sie zum ersten Mal auf meiner Brust lagen, meine Hand nahmen, ihre Schritte machten, mich mit unschuldigen Augen ansahen, die mir sagten: Mama, dich werde ich nie verlassen.

Ein Leben ohne Lu, der mich vielleicht neu geliebt hätte — dessen Liebe mich vielleicht bis zur Sonne getragen oder in den Abgrund gestürzt hätte. Ich werde es nie wissen.

Nur der Hauch eines Kusses bleibt mir von ihm, und die Gewissheit, dass ich mich mit meiner Bürde gleichzeitig für etwas anderes entschieden habe: Meine eigene Freiheit.

Ist sie es wert?

Schoko japst, zieht seinen warmen Kopf von meinen Beinen und trippelt zum Haus. Ich folge ihm, den Blick gen Meer gerichtet.

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Wissenswertes

Diese Geschichte entstand im Sommer 2021. Inspiriert vom Meer, der Sehnsucht nach Sardinien und der wundervollen Ausdrucksform von Andrea de Carlo.