"Die Kinder haben Dinge erlebt, die ich mir nicht mal vorstellen kann"- Mit UNICEF in der Demokratischen Republik Kongo -


Als Susanne mir geschrieben hat, dass sie bald in die Demokratische Republik Kongo reist, da stand für mich sofort fest: Ihre dortigen Erfahrungen gehören auf jeden Fall auf den Blog! Hier lest ihr nun also ein Interview mit ihr, in dem sie von Ihrem Besuch in einem der ärmsten Länder der Welt berichtet.

Susanne, du arbeitest seit zwei Jahren als Onlineredakteurin für United Internet for UNICEF. Nun warst du vor kurzem in der Demokratischen Republik Kongo und hast dir dort die Arbeit und Projekte von UNICEF angesehen, die ihr finanziell unterstützt. Wie muss man sich als Außenstehender die Lage in der DRK vorstellen? Wie ist die aktuelle Lage?

Die Situation im Kongo ist schwierig und durch viele Faktoren sehr kompliziert. Es bestehen beispielsweise verschiedene alte Konflikte im Osten und Süden des Landes, die schwelen und immer wieder hochkochen. Seite Ende 2016 ist in der zentralen Kasai-Region zudem ein neuer Brandherd entstanden. Und als ob das noch nicht genug wäre, kämpfen Hilfsorganisationen wie UNICEF seit Mitte des Jahres gegen einen erneuten Ebola-Ausbruch.

Der Kongo zählt zudem zu den rohstoffreichsten Ländern der Welt – Auseinandersetzungen um Mineralien führen zu weiteren tödlichen Auseinandersetzungen. Für Kinder ist diese Lage besonders schwierig. Viele sind im eigenen Land auf der Flucht, verstecken sich im Busch oder sind in Nachbarländer wie Uganda oder Angola geflohen. Seit Januar 2017 ist die Zahl der Binnenvertriebene auf über vier Millionen Menschen angestiegen – so viele wie sonst nirgendwo sonst in Afrika. Und fast acht Millionen Kinder sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Eine immense Aufgabe also, die jedoch wenig internationale Beachtung findet.

Wie war es für dich in den Kongo zu reisen? Hattest du Bedenken?

Für mich war es die erste Reise nach Afrika überhaupt. Und dann ging es gleich in den Kongo – ich glaube, meine Eltern würden sich wünschen, dass ich einfach mal nach Italien fahre … Aber Spaß beiseite. Natürlich war ich unglaublich gespannt, was mich erwartet. Und auch etwas in Sorge, wie ich mit dem Erlebten werde umgehen können. Wirkliche Bedenken hatte ich allerdings nicht – wir haben ein tolles Team vor Ort, das sich großartig im Vorfeld und während unseres Aufenthaltes um alles gekümmert hat. Und ich war gemeinsam mit unserer Vorständin Tessa Page, Ann Kathrin Linsenhoff, die bei uns im Stiftungsrat ist, sowie Christian Schneider, dem Geschäftsführer von UNICEF Deutschland, unterwegs. Alle drei waren schon mehrfach in Afrika oder im Kongo – das gibt dann zusätzlich Sicherheit, wenn man weiß, dass man ein Team an der Seite hat, das erfahren ist. 

Was hast du vor Ort erlebt? Welche Projekte habt ihr besucht?

Puh – wo soll ich da anfangen? Die Arbeit der Teams im Kongo ist unglaublich vielfältig und herausfordernd. Während der Reise haben wir unseren Fokus auf Schulbildung, Gesundheitsversorgung und Mangelernährung gelegt. Außerdem haben wir Kinder besucht, die Mitglieder in bewaffneten Gruppen waren. Den ersten Tag waren wir in der Provinz Kinshasa, rund um die gleichnamige Hauptstadt, unterwegs. Die Region ist ländlich strukturiert und sehr, sehr arm. Deshalb liegt dort der Fokus vor allem auf einer grundlegenden Gesundheitsversorgung für Familien. Hierbei unterstützen viele ehrenamtliche Gesundheitshelferinnen und -helfer, ohne die die Aufgabe gar nicht zu bewältigen wäre.

Am zweiten Tag sind wir dann in die Krisenregion Kasai geflogen und haben dort weitere Projekte besucht. Du musst dir das so vorstellen: Durch die anhaltenden Konflikte und Kämpfe konnten die Menschen vor Ort zum einen keine Lebensmittel anpflanzen. Ihnen sind dadurch schon drei Ernten komplett ausgefallen und auch die kommende ist noch nicht sicher. Zum anderen müssen viele vor den Kämpfen fliehen. Entweder in den Busch oder über lange Distanzen in Dörfer, in denen es gerade keine Konflikte gibt. Das zusammen führt zu schwerer Mangelernährung, Krankheiten wie Durchfall, psychischen Traumata und Verletzungen. Viele sind durch die Kämpfe oder auf der Flucht gestorben.

In dem Gesundheitszentrum Saints Martyrs haben wir beispielsweise Rose kennengelernt. Die 31-Jährige lebte mit ihrer Familie zu Beginn der Krise, im Juli 2017, etwa 250 Kilometer entfernt. Als die Milizen ihr Heimatdorf überfielen, mussten sie und ihre Kinder mit ansehen, wie ihr Mann getötet wurde. Gemeinsam mit ihren sechs Kindern floh sie in den Busch, auf der Suche nach einem sicheren Zufluchtsort. Auf dem Weg nach Saints Martyrs starben ihre drei ältesten Kinder. Die jüngste, Christine, leidet an schwerer akuter Mangelernährung. Mit ihren drei Jahren wiegt sie gerade einmal acht Kilogramm – 16 wären normal. Dank UNICEF und unserer Unterstützung hat die Kleine eine Chance bekommen zu überleben. Und das ist nur eine von Tausenden ähnlichen Geschichten.

Wie haben die Kinder auf dich reagiert?

Trotz allem, was diese Kinder erlebt haben, sind sie doch noch Kinder geblieben. Die meisten haben fröhlich, neugierig und gespannt auf uns bzw. mich reagiert. Da läuft eine weiße Frau mit einer Kamera rum … die schauen wir uns mal aus der Nähe an. Natürlich waren einige auch schüchtern oder haben sich alles etwas zurückhaltend angesehen. Gemeinsam Fotos oder Selfies machen, fanden alle besonders spannend und konnten gar nicht genug davon bekommen. Was ich aber auch sehr gespürt habe: Die Hoffnung der Kinder, dass wir Veränderung bringen. Dass sie durch uns wieder regelmäßig zur Schule gehen und lernen können.

Ihr wart auch bei Kindern, die für Milizen gearbeitet haben? Wie war das für dich, welche Behandlung erhalten die Kinder, wie werden sie reintegriert?

Richtig. Das ist, insbesondere in der Region Kasai, ein sehr brisantes Thema. Mindestens 60 Prozent der bewaffneten Gruppen bestehen aus Kindern. Wenn sie „Glück“ haben, müssen sie nur für die Gruppen kochen oder Verwundete verarzten. Oft aber werden sie als Sexsklaven gehalten oder in die vorderste Kampfreihe als Puffer gestellt – nicht selten nur mit einfachen Stöcken bewaffnet. Meistens läuft das Ganze so ab, dass die Milizen von Dorf zu Dorf ziehen und Nachwuchs rekrutieren. Wenn Kinder oder Eltern sich weigern, gelten sie automatisch als Verräter. Die Konsequenzen kannst du dir vorstellen. Die Gräueltaten, die mir erzählt wurden, sind nicht fassbar. Es ist abartig, wozu Menschen fähig sind und anderen Menschen, insbesondere Kindern, antun.

UNICEF kümmert sich um diese Kinder gemeinsam mit Partnern vor Ort. Manche Kinder können fliehen, andere werden nach langwierigen Verhandlungen von den Milizen entlassen. Sie erhalten dann medizinische und psychologische Betreuung und kommen zunächst für etwa zwei Monate in Übergangszentren. Häufig müssen sie dort erst wieder lernen, dass Waffen und Gewalt nicht zum normalen Alltag gehören. Dann kehren sie nach Möglichkeit wieder in ihre Familien zurück.

Dass diese Rückführung nicht immer leicht ist und gelingt, erzählte uns ein 16-Jähriger. Er lebte acht Monate bei bewaffneten Gruppen und hatte dort die Aufgabe, Verwundete zu verarzten. Gemeinsam mit anderen Kindern aus seinem Dorf wurde er von den Milizen gekidnappt – als einziges Kind kehrte er lebend zurück. Was seiner Familie große Freude bereitete, rief in der Dorfgemeinschaft große Ablehnung hervor. Warum hatte ausgerechnet er als einziges Kind überlebt? Aus erneuter Angst um sein Leben kehrte er in das Übergangszentrum zurück. Er absolviert nun eine Ausbildung zum Mechaniker – die Zukunft mit seiner Familie bleibt ungewiss.

Was können die Spenden von United Internet for UNICEF im Kongo bewegen?

Zunächst einmal vorneweg: United Internet for UNICEF gibt 100 Prozent seiner Spenden direkt an UNICEF weiter. Jede noch so kleine Spende bewirkt etwas und ist vor Ort unglaublich wichtig. Denn der Kongo zählt zu einer der „vergessenen Krisen“, weswegen 2018 auch bei weitem nicht genug Geld zur Verfügung steht, um alle Projekte zu finanzieren. Vielleicht ein Beispiel, das veranschaulicht, wie die Spenden wirken:

Wir haben eine Schule in Tshimpidinga besucht, ein abgelegenes Dorf, das nur über schlammige Straßen mit tiefen Schlaglöchern erreichbar ist. Wir wurden dort von den Lehrern, Hunderten singenden Schülern und der Dorfgemeinschaft überschwänglich begrüßt. Diese Freude ist umso bemerkenswerter, da die Schule und Dorfgemeinschaft im letzten Jahr von Milizen brutal überfallen wurden. Die gesamte Schule wurde niedergebrannt und die Einwohner flohen in den Busch.

Für die nächsten Monate diente das Dorf als Stützpunkt der Milizen für Angriffe auf den Flughafen von Kananga. Schuldirektor Joseph Biamba Bamgamba erklärte uns, dass er nicht dachte, dass sie jemals zurückkehren und ihr Leben fortsetzen können. Dank UNICEF gelang es, den traumatisierten Kindern wieder Sicherheit zu geben und mit psychologischem Training beizustehen. Mit zwei Zeltschulen ist jetzt wieder Unterricht für über 400 Kinder möglich. Das Dorf hat Latrinen, eine eigene Wasserquelle, Sanitäranlagen und Hygieneschulungen bekommen.

Wie gehst du selbst mit alldem um? Gelingt es dir, die Geschichten auf Distanz zu halten?

Ich denke, ich bin immer noch dabei, das Ganze zu verarbeiten. Ich musste vor Ort oft mit den Tränen kämpfen, aber ich wollte vor den Kindern und Müttern nicht zu weinen anfangen. Die Kinder haben Dinge erlebt, die ich mir noch nicht mal vorstellen kann – wie kann ich dann zu weinen anfangen, wenn sie so stark sind und ihren Weg weitergehen? Oft hat mich die Fülle der Informationen und Geschichten aber auch einfach nur überwältigt.

Ich habe die Kollegen vor Ort gefragt, wie sie es schaffen, zwischen all der sinnlosen Gewalt nicht die Zuversicht zu verlieren und wie es ihnen gelingt, weiterhin ihren Job zu machen. Die Antwort war immer dieselbe: „Wegen dieser unglaublich tollen Menschen hier im Kongo.“ Auch, wenn es manchmal nur wie ein Tropfen auf dem heißen Stein wirkt. Oder zwischen den Kämpfen der unterschiedlichen Machtinteressen hoffnungslos erscheint. Jedes einzelne Leben, das wir mit unserer Arbeit retten können, ist es wert.

Wenn der 17-jährige Michael*, der bei den Milizen als Spion arbeiten musste und jeden Tag sein Leben riskiert hat, wieder zur Schule gehen kann, hat unsere Arbeit etwas bewirkt. Wenn die kleine Christine die schwere Mangelernährung überlebt, hat unsere Arbeit etwas bewirkt. Oder um es mit den Worten von Schuldirektor Joseph Biamba Bamgamba zu sagen: „Something good is never lost.“ Das, was wir für das Dorf geleistet haben, wird nie vergessen werden.

*Name geändert

Susanne arbeitet für die Stiftung United Internet for UNICEF. In Kooperation ist bereits der Text „Paradies, Flucht, Hungersnot: Wer achtsam reist, entdeckt auch Schattenseiten“ entstanden. Ich bekomme für diese Artikel kein Geld, sondern veröffentliche sie aus der Überzeugung, dass Reisen bedeutet, die Welt mit all ihren Facetten zu entdecken. 

Wie ist das mit euch: Seid ihr im Ausland schon mal richtig großer Armut begegnet und wie seid ihr damit umgegangen? Schreibt es mir gerne in die Kommentare!