Auf den Spuren der Antike- Die Ruinen von Karthago in Tunesien -


Sie ist in eine Toga gewickelt, schneeweiß fließt sie um ihre Taille. Auf dem Kopf trägt sie einen Tonkrug, Wasser plätschert leise. Neben ihr diskutieren ehrwürdige Senatoren, ihre Hände schreiben die Worte in die Luft. Kinder spielen neben der Tempelanlage, es duftet nach frischem Brot und süßen Datteln. Die See in der Ferne, ein Schmied hämmert auf seinen Amboss, das Kriegsschiff wird beladen. Ich öffne die Augen. Vor mir ein Meer aus kahlen Steinen. Karthago.

Immer wieder bin ich dort, in der antiken Stätte, die es einmal gab; sehe sie klar vor mir:

Die Menschen, die hier gelebt, geliebt, geweint und gelitten haben müssen. Sie bauten riesige Paläste, Thermen, Brücken, prachtvolle Tempel und Theater. Archäologen rätseln bis heute, wie sie es damals fertig brachten, diese Kunstwerke zu schaffen — wie sähe die Hamburger Hafencity heute aus, würden wir uns von den antiken Bauwerken der römischen, griechischen oder punischen Zeit inspirieren lassen? Stattdessen ziehen wir Klötze aus Beton hoch, gleich auf gleich, Fassaden aus Glas, streichen raue Wände glatt. Graue Mauern.

Hier stehe ich nun, in Karthago, an der Mittelmeerküste von Afrika. Mit der Schnellbahn bin ich von Tunis, der Hauptstadt von Tunesien, hierher gefahren. Die Sonne brennt, es ist heißt. Vor mir nichts als nackte Steine, versunkene Stätten, eine alte Statue mit abgeschlagenem Kopf. Es ist nicht mehr viel übrig vom mächtigen Karthago, das einst die viertgrößte Stadt im römischen Reich war. Sie stand hinter Rom, dem ägyptischen Alexandria und dem türkischen Antiochia.

Aber stellen wir uns doch vor, wie es gewesen sein könnte!

Wir sind die Phönizier, die ersten Bewohner Karthagos. Wir wandeln in bunten Webstoffen durch die verwinkelten Gassen. Unsere Stadt ist umgeben von einer gewaltigen Mauer, die vor feindlichen Angriffen schützt. In 13 Metern Höhe kreist sie um die Tempel, die Häuser, die Palmen. Bis ins Meer hinein, um auch den Hafen abzuschotten. Die beiden Könige, die Sufeten, regieren die Stadt aus dem Palast. Im Hafen liegen weit über 200 Kriegsschiffe. Es ist geschäftig, Fischer preisen ihre Ware an, Netze werden eingeholt, junge Männer branden auf die Master, wollen in den Krieg ziehen. Unsere Stadt ist reich, wir besitzen alles, was wir brauchen. Die Häuser sind aus Lehm gebaut, sie haben ein festes Steinfundament. Im Innenhof gedeihen Dattelpalmen, Feigenbäume, Oliven und Weinreben. Mosaikfußböden in blau, rot und weiß zieren unsere Badebecken, unterirdische Zisternen versorgen die ganze Stadt mit Wasser. Auf dem Markt, der zwischen den sandsteinfarbenen Häusern liegt, handeln wir mit Metallen, mit Keramik. Vielleicht sind wir ein Färber? Oder wir sind Landwirt, bauen Weizen in der Nähe der duftenden Eichen- und Kiefernwälder an. Das Zentrum unseres Karthago ist der Byrsa-Hügel, eine Zitadelle und der Tempel stehen dort im Sonnenlicht.

Natürlich erobern die Römer Karthago eines Tages, wie könnte es auch anders sein. Mit ihrem Sieg über die Phönizier zerstören sie die Stadt bis auf die Grundmauern. Kulturelle Schätze gehen verloren, die Bewohner werden versklavt. Doch die Römer machen aus Karthago eine Handelsmacht. Das Christentum findet seinen Platz in Nordafrika. Und plötzlich ist der Byra-Hügel bevölkert von den 100 Senatoren, die das Richtertribunal der Stadt bilden. Politik wird im Senat gemacht. Sie errichten die Antonius-Pius-Thermen: Ein Badehaus am Meer. Im Amphitheater sind wir einer der 50.000 Zuschauer, jubeln den Gladiatoren bei ihren Kämpfen zu — oder gehören wir zu den edlen Oberhäuptern, die auf der Tribüne entscheiden, wer die Arena als Sieger verlässt?

Ich strecke die Hand aus und berühre uralten Stein, auf dem einmal ein König gesessen haben könnte.

Es ist eine Reise zur Imagination. Wir alle haben diese Kraft in uns, wenn wir finden, was sie auslöst. Phantasie, unsere Vorstellungskraft, ist ein altgriechisches Wort. Es stammt ab von phantasía, was so viel wie „Erscheinung“ oder „Traumgesicht“ bedeutet. Für mich ist Phantasie nicht nur das Denken in Traumbildern. Ich erzeuge eine ganze innere Welt. Verstehe und erfühle einen Ort mit meinen Gedanken, erreiche ihn mit mit allen Sinnen.

Orte wie dieser inspirieren meine Phantasie. Karthago schenkt mir unerwartete Einfälle, haucht mir  kreative Kraft ein, von der ich nicht ahnte, dass sie da ist!

Heute stehen in Karthago noble Villen, der Präsidentenpalast, die Universität. Auf dem Byrsa-Hügel reckt sich die Kathedrale des Heiligen Ludwig empor. Daneben steht das archäologisches Nationalmuseum.

Im Dörfchen Sidi Bou Saïd lege ich auf dem Rückweg nach Tunis eine Pause ein. Muschelweiße Häuser mit verwunschenen Terrassen, Palmen im Innenhof, die unter der Nachmittagssonne glühen. Einmal lebten hier religiöse Einsiedler, ein Harem hatte seine Glanzstunde; heute ist das malerische Dorf ein Treffpunkt für Künstler. Im frühen 20. Jahrhundert kamen Paul Klee und August Macke zu Besuch, unternahmen Einkäufe auf dem Souk, genossen Wasserpfeifen im Café und malten. Die Kreativität trägt mich weiter.

Die Dächer von Sidi Bou Saïd sind so blau wie das Meer. Über eine Treppe geht es nach oben, bis ich über die ganze Stadt sehen kann. Tunis in der Ferne, und dann die Ruinen. Der Glanz der antiken Stätte mag verschoben worden sein — aber ich kenne den Weg zurück. Es ist nur ein winziger Sprung, in meinem Geist.

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