Das Gute liegt so nah- Ist das noch Reiselust oder schon Fernweh? -


Feiner Sand unter nackten Füßen, dabei ein kühles buntes Getränk in der Hand und den Duft exotischer Gewürze in der Nase – ein Traum, so viel steht fest. Aber einer, der vorläufig ohne mich stattfinden darf. Denn Reisen verschiebe ich auf später.

„Mir bangte vor jeder Fortsetzung des kriegerischen Zustandes, und das Fluchtgefühl ergriff mich abermals. Ich möchte dies ein umgekehrtes Heimweh nennen, eine Sehnsucht ins Weite statt ins Enge. Ich stand, der herrliche Fluss lag vor mir: er geleitete so sanft und lieblich hinunter, in ausgedehnter breiter Landschaft; er floss zu Freunden, mit denen ich, trotz manchem Wechseln und Wenden, immer treu verbunden geblieben. Mich verlangte aus der fremden, gewaltsamen Welt an Freundesbrust, und so mietete ich, nach erhaltenem Urlaub, eilig einen Kahn bis Düsseldorf, meine noch immer zurückbleibende Chaise Koblenzer Freunden empfehlend, mit Bitte, sie mir hinabwärts zu spedieren.“

Und, erkennst du dieses Lebensgefühl wieder? Die Worte stammen von Johann Wolfgang von Goethe, der sich mit ihnen an seine Gedanken während des Krieges der Österreicher und Preußen gegen die Franzosen ab dem Jahre 1792 erinnert.

Sich wünschen, ganz weit weg zu sein, den „kriegerischen Zuständen“ zu entfliehen, das klingt dramatisch und doch scheint es mir, als wenn viele von uns sich mit diesem Gefühl zur Zeit identifizieren können.

Denn das, was Goethe als umgekehrtes Heimweh beschreibt, ist doch nichts anderes als Fernweh. Der Wunsch, der Wirklichkeit zu entfliehen, die Sehnsucht, an einem fremden Ort das Paradies zu finden oder wenigstens einen Zustand, der diesem doch recht nahe kommt. Vielleicht sogar die Sehnsucht nach einem anderen Leben.

Fernweh oder Reiselust?

Aber sind wir doch mal ehrlich: Hat das jemals irgendwann, irgendwo und bei irgendwem geklappt – also einfach aufbrechen, woanders hingehen und schwups ist das Leben perfekt? Vielleicht fühlt es sich ja sogar für einen Moment so an, als sei plötzlich alles gut, die Probleme verschwunden, doch spätestens bei der Rückkehr ist alles wieder da. Wie gerne würde ich mal Goethe zu seinen Erfahrungen befragen.

Und deshalb frage ich mich: Ist Fernweh wirklich ein guter Grund zu Reisen? Oder sollte es nicht viel mehr die Reiselust sein, die Freude am Abenteuer, die Neugier auf das Unbekannte? Das Hin-zu anstelle von Weg-von?

Als ich vor zehn Jahren in den Flieger und auf meinen ersten Langstreckenflug ging, da waren Abenteuerlust und Neugier riesig. Auf fremde Menschen, neue Kulturen, Freiheit. Denn ja, das bedeutet Reisen bis heute für mich: Freiheit.

Ich lebte in den Tag und tat nur das, was mir gefiel: Reiste Kilometer um Kilometer in Bussen, Zügen und Flugzeugen, traf Menschen, lachte, weinte und wuchs über mich heraus. Reisen brachte mich an meine Grenzen, servierte mir Abenteuer auf dem Silbertablett und vermittelte mir schließlich vor allem ein Gefühl: Die ganze Welt ist mein Zuhause.

Abenteuer Heimat

Aktuell weiß ich: Egal, wo ich ankomme, das Virus ist schon dort. Und obwohl mein Fernweh größer denn je ist, so hat Corona, das an meiner Stelle nun um die Welt reist, meine unbändige Reiselust erstickt. Und deshalb bleibe ich erst einmal zuhause.

Und erlebe meine Abenteuer einfach hier. Denn wenn die Pandemie mir eines gezeigt hat, dann dass ich dafür gar nicht in den Flieger steigen muss. Unser Land, jede Stadt und jedes Dorf hat so viel zu bieten, dass es gerade zu Verschwendung wäre, dies nicht zu nutzen. Vielleicht, denke ich sogar, können wir gerade deshalb so viel entdecken, weil wir durch die vielen Möglichkeiten in der Vergangenheit ganz abgelenkt waren von der Schönheit unserer Heimat.

Werde ich nun also nie wieder in einen Flieger steigen? Vermutlich schon. Aber vorerst genieße ich den Sommer zuhause, besuche schon bald wieder die Blühwiese, die wir im Frühjahr angelegt haben, und schaue den Hummeln beim Rundflug über die Felder zu. Und an einem Wochenende fahre ich vielleicht mal mit Julia ans Meer. Für mich ist das vorerst Abenteuer und Reiselust genug.

Oder wie Goethe auch sagte: „Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah?“