Immer den Impulsen nach!- Fahrrad-Reise durch Italien -


Nie wollte ich in Mailand leben. Die Stadt war mir immer zu grau, zu hektisch, zu hochnäsig, zu dicht. Eine Fahrrad-Reise durch Italien endet genau da: in einer Einzimmerwohnung in Mailand. Und das ist eines der besten Dinge, die mir je passiert sind.

Die Sonne heizt bereits zünftig ein, als ich den Campingplatz von Bologna verlasse. Jeden Morgen dieses Glücksgefühl, wenn ich wieder losfahre. Wenn der Fahrradrock um meine Beine flattert und meine Muskeln langsam warm werden.

Vier Wochen sind vergangen, seit ich in der Schweiz losgefahren bin. Weit bin ich noch nicht gekommen, aber darum geht es mir auch nicht. Ich bin nicht unterwegs, um ein Ziel zu erreichen, sondern um Tag für Tag intensiv zu leben, um Menschen zu begegnen – und um irgendwann zu begreifen, wohin ich gehöre und was mich daran hindert, vollkommen zufrieden zu sein. Ganz im Sinne von Slow Travel.

Wohlgemerkt – ich bin nicht mehr jung. Mit 45 Jahren tue ich das, was die Jungen richtigerweise tun: Job kündigen, Wohnung kündigen, Möbel verkaufen, das restliche Hab und Gut einstellen, Fahrrad packen, und ab in den Süden.

Job und Wohnung gekündigt, um zu pedalen

Natürlich habe ich früher auch Derartiges gemacht, aber dieses Mal ist etwas anders: das ist keine Auszeit. Ich ziehe nicht los mit der Absicht, nach ein paar Monaten zurückzukommen und mir wieder eine Wohnung und einen Job am gleichen Ort zu suchen.

Ich will’s jetzt wissen und pedale durch Italien,

  • weil ich mich da, wo ich bisher wohnte, nicht zuhause fühle.
  • weil ich nicht fürs Bürojobleben geschaffen bin.
  • weil ich begreifen will, was dieses Leben von mir will.
  • weil ich weiß, dass ich der Welt noch viel mehr zu geben habe.
  • weil ich lernen und wachsen will.

Diese Reise darf mich dahin führen, wohin ich gehöre. Und darum nehme ich nur noch einen Wegweiser ernst: meine Intuition. Ich folge den Impulsen, die mir das Leben schickt. Ist mir nach Bleiben, dann bleibe ich. Ist mir nach Kilometerfressen, dann fahre ich so lange, bis es reicht.

Da brennt dir das Hirn weg: Radfahren in Italien im Hochsommer

Heute beginne ich mit der Überquerung des Apennins. Ich weiss, das wird streng. Und ich freue mich. Ich liebe es, Pässe zu fahren, ich mag Aufstiege, die mich echt fordern. Oftmals habe ich kleine Geistesblitze, wenn ich an meine körperliche Grenze komme. Erkenntnisse oder Ideen, die mir sicher nicht am Bürotisch zufallen.

So auch heute: Soeben habe ich die Grenze von der Emilia-Romagna zur Toskana passiert, als ich mich an einem weiteren steilen Aufstieg abmühe. Viel zu steil für meine schwere Fuhre. Und in dieser Hitze. Innerlich beginnt sich der übliche Widerstand zu regen. Ich schnaufe und keuche, der Schweiss rinnt mir in die Augen – und da kommt der Hinweis: Such dir eine Bleibe für den Sommer.

Ja, es ist Anfang Juli. Italien im Sommer hat ein paar unangenehme Eigenschaften: Es ist heiß, die Preise der Campingplätze verdoppeln sich plötzlich und an den attraktiven Orten wird es laut und eng. Heute spüre ich’s besonders: Die Hitze ist kolossal. Nicht ideal für eine Fahrrad-Reise. Ich mag’s heiß, aber in den Nachmittagsstunden glüht mir das Hirn – scheint mir nicht sonderlich gesund, was ich hier tue.

Housesit in der Toskana

Also suche ich mir einen günstigen Übersommerungsplatz bis Ende August. Wenn der Sommerspuk vorbei ist und die Hitze abgedampft, kann ich weiterfahren, denke ich.

Es kommt natürlich anders. Nämlich so:

Die kostenlose Bleibe zum Übersommern finde ich über die Plattform Trusted Housesitters. Das geht grundsätzlich so: Du hütest Haustiere und die Wohnung von Leuten, die in die Ferien gehen. Im Gegenzug kannst du kostenlos in ihrer Wohnung leben. So kannst du sehr günstig reisen und dich erst noch nützlich machen.

In diesen Tagen finde ich einen Haussitter-Platz im Chianti-Gebiet in der Toskana, wo ein junges Paar gleich zweimal in die Ferien fährt, einmal für zehn Tage, dann sind sie für eine Woche zurück, dann nochmals für den ganzen Monat August. Perfekt, denke ich mir, und trete meinen ersten Housesit erfreut an. Ein Hund und drei Katzen halten mich in den ersten zehn Tagen auf Trab und bei Laune. Eine wirklich grandiose Sache, dieses Housesitting!

Der zweite Teil des Haussits kommt aus verschiedenen Gründen nicht zustande, was mich erneut vor die Frage stellt, wie ich den August im übervollen, teuren Italien verbringen soll.

Und jetzt? Der Impuls führt nach Levanto

Nach dem Abschied von den Tieren sitze ich im goldenen Abendlicht auf dem Campingplatz von Siena und sinniere, was ich nun tun soll: zurück in die Schweiz und bei Freunden wohnen? Italienische Freunde um Asyl bitten? Die Italientour unterbrechen und in kühleren Regionen weiterfahren? Behagt mir alles nicht so. Und plötzlich sagt da eine Stimme in mir:

Geh auf den Campingplatz in Levanto!

Och ja, da habe ich mich vor zwanzig Jahren einmal so wohl gefühlt. In Ligurien, direkt nördlich anschließend an die Cinque Terre. Ein ganz bezaubernder, relativ ruhiger Ort mit einem wunderschön terrassierten Campingplatz. Fünf Gehminuten vom Meer und Ortskern entfernt.

Jawohl, ab nach Levanto! Der Impuls ist klar, und dem folge ich sehr gern.Am nächsten Tag stelle ich in der flirrenden Hitze der Mittagszeit mein Zelt auf der obersten Terrasse des Campingplatzes von Levanto auf. Hier ist der Ort, wo ich so lange bleiben kann, wie ich will. Der Preis ist fair, und ich habe alles, was ich brauche.

Ein Glücksgefühl überrauscht mich. Nach sechs Wochen Fahrrad-Reise bin ich wieder für eine Weile sesshaft. Mein Zelt ist mein Zuhause. Ich brauche nicht Tag für Tag zu überlegen, wo ich die nächste Nacht verbringen werde. Und ich habe in der Camping-Bar stabiles wlan, Stromanschluss und einen bequemen Stuhl zum Arbeiten.

Und das Meer, Tag für Tag!

Alles kommt mir wie der grösste Luxus vor. So ein Glück.

In dem Moment weiß ich noch nicht, dass mich auf diesem Platz noch ein weiteres, lebensveränderndes Glück erwartet.

Der Zeltnachbar

Am nächsten Tag lerne ich ihn kennen. Er wohnt auf der gleichen Camping-Terrasse wie ich, mein Zeltnachbar. Ab und zu saust er an meinem Zelt vorbei wie ein Pfeil.

Ich bin ein kleiner Angsthase, was das Ansprechen von attraktiven Herren angeht, aber da ist wieder ein Impuls, der mich nicht mal überlegen lässt, sondern bei der nächsten Gelegenheit zuschnappt:

“Bist du Italiener?”, frage ich ihn, als er schon fast an mir vorbei ist.

Das ist natürlich nicht die geistreichste Frage, aber sie erfüllt ihren Zweck: Wir kommen ins Gespräch. Und hören nicht mehr auf.

Am Abend darauf erklimmen wir einen Hügel und genießen zusammen den Sonnenuntergang über dem Meer. Ab diesem Abend verbringen wir Tag für Tag zusammen. Zwei Wochen später ziehen wir zusammen in sein Zelt – das wesentlich größer ist als meins.

Als sich das Ende des Augusts nähert, stellt sich die Frage: Was wird jetzt aus uns? Im September muss er zurück nach Mailand zum Arbeiten. Und ich? Zurück aufs Fahrrad, um weiterhin Italien zu erkunden?

“Zieh zu mir nach Mailand”, sagt er. In seine Einzimmerwohnung.

Mailand? Sicher nicht! – Oder doch…?

Mailand?! Hat mir nie gefallen. Den Ort hätte ich mir niemals zum Leben ausgesucht.

Eine Einzimmerwohnung zu zweit? Noch vor einem Monat hätte ich die Augen verdreht: niemals!

Mit einem Mann zusammenziehen nach knapp sechs Wochen Bekanntschaft? Sicher nicht!

Aber der Impuls sagt: Diesen Mann hat dir der Himmel geschickt. Wag’s, geh mit ihm, hier hast du etwas zu lernen, hier kannst du wachsen, hier geht dein Weg lang.

Wohin auch immer.

So ziehe ich nach knappen sechs Wochen Bekanntschaft zu einem Mann in seine Einzimmerwohnung in Mailand. Eine große Liebe, die mich herausfordert, mich wachsen lässt, mir klar macht, wohin ich gehöre und was mich bisher daran gehindert hat, vollkommen zufrieden zu sein.

So kann’s kommen, wenn du immer deinen Impulsen folgst.

Wissenswertes

Doro Staub ist Reiseautorin und Texterin und bloggt auf Miss Move über Radreisen in Italien. Sie hat Job und Wohnung für eine open-end Reise per Fahrrad aufgegeben. Diese Solo-Reise durch Italien hat sie nach Mailand geführt, wo sie aktuell lebt.