Die schwerste Etappe!- Der Camino Primitivo Etappe 5 – Hospitales Route von Campiello nach Berducedo -


Die Königsetappe des Camino Primitivo steht an. Fast 30 Kilometer mit nur einem richtigen Stopp und keinem Restaurant oder Café in der Nähe. Dazu geht es auf schwindelerregende 1200-Meter-Höhe, mit starkem Wind, Schnee und erbarmungslosen Anstiegen. Ob das gut geht?

Verschlafen öffne ich die Fensterläden, alles ist dunkel. Ich öffne die Tür, die Straßenlampen sind noch nicht an. Der Boden schimmert leicht durch den Morgentau. Oder hat es geregnet? Ich kann nichts erkennen. Ich ziehe meine Hausschuhe an und stapfe vorsichtig die Treppe zum Innenhof hinunter. Der Boden ist nass, kein Zweifel. Regnen tut es jedoch nicht. Glück gehabt. Es ist fünf Uhr morgens und mich erwartet heute womöglich die größte Herausforderung meines Lebens.

Wir packen zusammen, ziehen uns an, zwingen uns ein Frühstück rein und laufen noch im Dunkeln aus Campiello los. Der Weg nach Borres führt über eine Asphaltstraße, die nirgends beleuchtet ist. Wir holen unsere Powerbanks heraus und versuchen, den Weg vor uns zu beleuchten. Wäre ich nicht so auf meine Schritte konzentriert, hätte ich eigentlich ziemlich große Angst haben müssen. Zwei Wanderer allein auf einer dunklen einsamen Straße. Der perfekte Anfang für einen Horrorfilm.

Wir kommen schließlich nach Borres und laufen an der Herberge vorbei. Spätestens jetzt wissen wir, dass es die richtige Entscheidung war, nicht hier zu übernachten. Das Dorf ist ruhig, alles schläft noch. Langsam geht die Sonne auf und nun erkennen wir, dass der Himmel zwar leicht bedeckt ist, jedoch nicht bedrohlich wirkt. Wir laufen durch das Dorf, leider zu weit, doch ein Spanier kann uns gerade noch stoppen und ruft uns hinterher, dass wir den falschen Weg haben. Wir gehen zurück und finden schließlich die Abzweigung, die uns auf den ersten leichten Anstieg führt. Im Hintergrund tut sich ein wahnsinnig schöner Sonnenaufgang auf.

Wir sind auf das Schlimmste vorbereitet und umso überraschender ist es, dass der Aufstieg zwar sehr anstrengend ist, wir ihn jedoch alles in allem ziemlich gut bewältigt kriegen. Wir machen viele kleine Pausen, immer wieder geht es steil bergauf, über Schotter und lose Steine, kleine Wiesen- und Abhangwege ohne Sicherung. Das ist definitiv nichts für Menschen mit Höhenangst. Für eine lange Mittagspause ist es so weit oben leider viel zu windig und zu kalt, stehen bleiben ist nicht. Je höher wir kommen, desto mehr Wolken ziehen sich zu.

Wir machen bei einem Baum eine kurze Essenspause im Stehen, bevor es bis zur Spitze hoch geht. Die Landschaft ist einfach atemberaubend und in den riesigen Berglandschaften komme ich mir plötzlich ganz klein vor. Der Weg zur Spitze ist nicht mehr weit. Es ist nun sehr kühl und auf den letzten Metern liegt Schnee. Endlich kommen wir oben am ersehnten Stein an. Freude und Erleichterung weichen schnell der Erkenntnis, dass es von nun an wahrscheinlich noch viel schlimmer wird. Ein Blick zur Seite lässt mich tiefen Schnee und dicke Pfützen erkennen. Kaum laufen wir weiter, überrascht uns ein starker Platzregen. Er dauert etwa zehn Minuten und macht das Laufen zu einer Tortur.

Etwas weiter um den Berg finden wir alte Steinruinen, die uns etwas Schutz bieten, bis der Regen weniger wird. Inzwischen sind alle Klamotten klatschnass und ich kann kaum etwas sehen. Endlich lässt der Regen nach und wir laufen um den Berg herum wieder bergab. Dort treffen wir nun plötzlich auch auf sehr viele andere Pilger, was ziemlich nervt, da wir nicht mehr so richtig in unserem eigenen Tempo laufen können und durch den schmalen Weg wenig Ausweichmöglichkeiten bestehen. Inzwischen hat der Regen komplett aufgehört. Endlich finden wir eine Baumgruppe, bei der wir kurz Pause machen können – es ist komplett windstill und man hört fast keine Geräusche. Urplötzlich überkommt mich ein Gefühl von Ruhe und Frieden, so schön ist es hier oben.

Es geht weiter und weiter über das Berggelände. Wenn wir gedacht hatten, das Schlimmste läge bereits hinter uns, dann lagen wir definitiv falsch: Es folgt der wohl schlimmste und anstrengendste Abstieg aller Zeiten. Ein schmaler Pfad mit losen Steinen führt uns rasant den Berg runter, wir müssen sehr langsam laufen, um nicht abzurutschen. Die Knie tun mit jedem Schritt mehr weh.

Nach einer gefühlten Ewigkeit kommen wir endlich unten an und es geht etwas ebener weiter. Wir schaffen es schließlich nach Lago, ein verlassenes Dorf, in dem wir eigentlich Pause machen wollten. Das Jakobsweg-Buch gibt an, hier sei ein Restaurant – Pustekuchen! Wir landen in einer toten Stadt, in der es nur noch Häuserruinen gibt.

Inzwischen sind wir über 20 Kilometer gelaufen, ohne richtig Pause zu machen. Das zehrt ordentlich an den Kräften. Wir laufen weiter, kurze Zeit später fängt es an zu gießen. Wir ziehen zum ersten Mal die Ponchos an, obwohl wir schon klatschnass sind. Unter den Ponchos ist es so warm wie im Regenwald, schwitzig, klebrig und stickig.

Nach 10,5 Stunden schaffen wir es endlich nach Berducedo. Die Pension Casa Marqués ist am nächsten dran und so stolpern wir mehr oder weniger halbtot in die Bar herein. Wir bestellen uns etwas zu trinken, während die Frau des Inhabers nebenan ihr Baby auf dem Esstisch wickelt. Sachen gibt’s, die gibt’s gar nicht. Ich staune nicht schlecht, als der Mann das Baby später sogar mit hinter die Theke nimmt. Ein Baby in einer Bar, das gibt es offenbar nicht nur in Soaps. Auch hier sprechen die beiden kein Englisch und so kratze ich müde mein Spanisch zusammen und ordere ein rustikales Doppelzimmer für uns. Nach so einem Tag haben wir uns das mehr als verdient.

Wir erkunden noch kurz die Gegend, sind aber viel zu müde und hungrig. Schließlich landen wir wieder in der Bar und nehmen uns den Tisch direkt neben dem Kamin, der in der Mitte des Raumes steht. Dazu gibt es ein leckeres Menü mit gutem Wein. Und wer sitzt da wohl neben uns? Ganz genau, die beiden Franzosen. Wir müssen inzwischen jedes Mal darüber schmunzeln und ich komme nicht umhin zu denken, dass das vielleicht auch wir in 40 Jahren sein könnten.

Wohlige Wärme umgibt uns und ich fühle mich unglaublich erleichtert. Wir haben es tatsächlich geschafft, die schwerste Etappe zu meistern. Es gab so viele emotionale Höhen und Tiefen und ich könnte gar nicht zählen, wie oft ich vor mich hin geflucht habe. Manchmal sogar minutenlang. Aber nun sind wir hier, haben uns durch fast 30 Kilometer ohne jede Zivilisation gekämpft. Durch Wind, Schnee, Platzregen und natürlich jede Menge Steine. Das Beste aber ist, dass wir uns trotz der ganzen Anstrengung nicht einmal gestritten haben, im Gegenteil. Das Erreichen der eigenen Grenzen ist eine besondere Herausforderung, wenn man mit dem Partner unterwegs ist. Aber wir haben dadurch nur noch mehr zusammengehalten und uns gegenseitig motiviert. Dafür bin ich unendlich dankbar.

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